Seit den 1980er-Jahren hat sich der Bundesrat konstant für einen erleichterten Zugang für Personen der zweiten und dritten Generation zum Schweizer Bürgerrecht eingesetzt. Die Einbürgerung sei im nationalen Interesse. Doch jüngst scheint der Bundesrat seine Meinung geändert zu haben. Erleichterungen für die zweite Ausländergeneration würden dem Ziel der Steuerung der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik zuwiderlaufen. Was ist passiert?
In den letzten 40 Jahren hat das Schweizer Stimmvolk insgesamt vier Mal über Erleichterungen bei der Einbürgerung von Kindern und Jugendlichen der zweiten und dritten Ausländer:innengeneration abgestimmt: 1983, 1994, 2004 und zuletzt 2017. Bei all diesen Vorlagen hat sich der Bundesrat für die hier aufgewachsenen Menschen ohne Schweizer Pass eingesetzt.
Vier Vorlagen
1983 hatte der Bundesrat vorgeschlagen, dass dem Bund mit einer Verfassungsänderung die Kompetenz eingeräumt werden solle, Vorschriften zur erleichterten Einbürgerung von jungen, in der Schweiz aufgewachsenen Ausländer*innen sowie Flüchtlingen und Staatenlosen zu erlassen. Im Vorfeld der Abstimmung hat der Bundesrat in seiner Botschaft argumentiert, dass die volle Eingliederung von Kinder der 2. Ausländer:innengeneration in die schweizerische Gemeinschaft mit allen geeigneten Mitteln zu fördern sei. Nur so könne «verhindert werden, dass sie mangels politischer Mitwirkungsmöglichkeiten in eine menschlich und vor allem auch staatspolitisch unerwünschte Isolation gedrängt werden» und sie sich als Sondergruppe fühlen und «von der schweizerischen Wirklichkeit absondern».¹ Die Erteilung des Bürgerrechts müsse im nationalen Interesse gefördert werden.² Jugendliche Ausländer:innen müssten durch eine möglichst frühzeitige Einbürgerung dafür gewonnen werden, volle Mitverantwortung für das Staatswesen zu tragen.³
Nachdem das Stimmvolk die Verfassungsänderung knapp abgelehnt hatte, versuchte es der Bundesrat erneut: in der Vorlage von 1994 schlug er vor, dass sich junge Ausländerinnen und Ausländer erleichtert einbürgern lassen sollen. Erneut wies er darauf hin, dass die volle Eingliederung in die staatliche Gemeinschaft durch Erwerb des Schweizer Bürgerrechts von Personen, die sozial, wirtschaftlich und kulturell eingegliedert sind, liege im öffentlichen Interesse.⁴ Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer folgte der Regierung – die Vorlage scheiterte allein am Ständemehr.⁵
Kaum zehn Jahre später legte der Bundesrat dem Stimmvolk 2004 erneut einen Vorschlag zur Reform des Bürgerrechts vor. Die Zeit sei nun wirklich reif für Einbürgerungserleichterungen. Ausländische Jugendliche der 2. Generation sollten sich erleichtert einbürgern lassen können und Jugendliche der 3. Generation sollten das Bürgerrecht automatisch bei Geburt durch ius soli bekommen. Wiederum hat der Bundesrat in seiner Botschaft betont, wie stossend es sei, dass hier geborene und aufgewachsene Kinder das langwierige ordentliche Einbürgerungsverfahren durchlaufen müssen. Seit zwanzig Jahren schon suche man nach einer Lösung. Es sei «nicht mehr haltbar, dass auch noch heute Gesuche von jungen, bei uns aufgewachsenen ausländischen Jugendlichen in einzelnen Gemeinden und Kantonen ohne jede Begründung und ungerechtfertigt abgelehnt werden können».
Zuletzt hat das Stimmvolk 2017 über eine Erleichterung der Einbürgerung abgestimmt. Diese erleichterte Einbürgerung für Personen der 3. Ausländer:innengeneration wurde am 12. Februar 2017 mit über 60% Zustimmung angenommen.
Zwei neue Ideen
Zwei neue parlamentarische Vorstösse wollten jüngst das Thema des erleichterten Zugangs zum Schweizer Bürgerrecht für hier aufgewachsene Kinder und Jugendliche wieder aufgreifen. Die Motionen Rechsteiner und Mazzone schlagen ein ius soli und eine erleichterte Einbürgerung für Personen der 2. Generation vor. Die beiden Motionen greifen die bisherige Argumentation des Bundesrates auf und betonen, dass diese jungen Menschen zur Schweiz gehören und als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden sollen.
Stimmungsumschwung im Bundesrat
Der Bundesrat ist jedoch mittlerweile von seiner früheren Position abgerückt und vertritt eine völlig neue Haltung: Die Kompetenz für die Einbürgerung soll bei den Kantonen und Gemeinden belassen werden, ungeachtet der Exzesse die in kantonalen und kommunalen Einbürgerungsgremien immer wieder vorkommen und der Tatsache, dass das dreistufige Bürgerrecht längst nicht mehr zeitgemäss ist. Erleichterung für hier aufgewachsene Kinder und Jugendliche seien nicht erwünscht, da sonst nicht mehr geprüft werden könne, ob jemand erfolgreich integriert sei und die innere Sicherheit nicht gefährde – wieso eine solche Prüfung bei Menschen, die hier aufgewachsen sind, überhaupt nötig ist, sagt der Bundesrat jedoch nicht. Statt dessen verweist er darauf, dass die in der Schweiz verbrachten Jahre zwischen dem 8. und dem 18. Geburtstag bei der Berechnung der Wohnsitzdauer doppelt gezählt würden.
Mit seiner Antwort fällt der Bundesrat weit in die Zeit vor 1980 zurück. Die Einbürgerungspolitik wird direkt mit der Frage der Steuerung der Zuwanderung und der nationalen Sicherheit verknüpft. Die Steuerung der Einbürgerungspolitik (wohl in einem restriktiven Sinne) wird zu einem öffentlichen Interesse erklärt. Ob dies jedoch der Meinung der Schweizer Bevölkerung entspricht, ist fraglich. Die jüngsten Erleichterungen im Bürgerrecht wurden vom Stimmvolk deutlich angenommen. Laut einer neuen Umfrage des Bundesamts für Statistik sprechen sich 59% der Bevölkerung für eine automatische Einbürgerung der 2. Generation aus. Wessen Interessen vertritt also der Bundesrat? Wohl nicht jene der hier aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen ohne Schweizer Pass. Und wohl auch nicht jene einer modernen, inklusiven und postmigrantischen Schweiz.
¹ Botschaft BBl 1982 II 135.
² Botschaft BBl 1982 II 136.
³ Botschaft BBl 1982 II 136.
⁴ Botschaft, BBl 1992 VI 549.
⁵ Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 12.6.1994, BBl 1994 III 1251.