Dreimal hat sich Yllka Gashi in Hochdorf (LU) um den Schweizer Pass beworben – dreimal wurde ihr Gesuch abgelehnt. Mehr als zwei Drittel ihres Lebens hat die 33-Jährige, über deren Fall der «Tages-Anzeiger» kürzlich berichtete, hier verbracht. Sie ging zur Schule und Sonntags als Ministrantin in die Kirche; sie studierte und fing an, als Juristin zu arbeiten; sie besuchte mit ihren beiden Kindern die Fasnacht und die 1.August-Feier. Für die Einbürgerungskommission, vor der Gashi sieben Mal erscheinen musste, war das offenbar nicht genug: «Zu wenig integriert», hiess es zuerst, später dann, dass Zweifel bestünden, ob der Lebensmittelpunkt der jungen Frau überhaupt Hochdorf sei.
Der Fall von Yllka Gashi mag besonders krass sein. Einzigartig ist er nicht. Rund ein Viertel der Bevölkerung schliesst die Schweiz aktuell vom Bürgerrecht – und damit von der Demokratie – aus. Menschen, die hier geboren sind, sich selbstverständlich hier zugehörig fühlen und als Teil der Gesellschaft begreifen. Die wie Gashi seit Jahren in der Schweiz leben, hier arbeiten und Steuern zahlen, ihre Freund:innen und Kolleg:innen haben, in Sportvereinen oder politisch aktiv sind. Gegen diese Ungerechtigkeit braucht es einen Paradigmenwechsel!
Im letzten Jahr haben sich Personen aus der Zivilgesellschaft zusammengetan, die sich beruflich und privat mit Themen rund um Migration und gleichberechtigte Teilhabe, Demokratie und Politik befassen. Als Aktion Vierviertel wollen wir die Defizite in der Schweizerischen Demokratie beheben: indem wir uns dafür einsetzen, dass alle nach vier Jahren das Bürgerrecht bekommen und damit vollwertige Mitglieder des politischen und gesellschaftlichen Lebens werden können. Und indem hier geborene Kinder, deren Eltern bei der Geburt ihren Wohnsitz in der Schweiz haben, automatisch Bürger:innen werden.
Der Weg zu vollwertiger und gleichberechtigter Teilhabe ist die Einbürgerung: das Recht, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, auf einen sicheren Aufenthalt und – vor allem – das Recht, als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Die Herkunft eines Menschen, seine weltanschaulichen Überzeugungen, seine Religion und seine soziale Stellung dürfen für das Bürgerrecht keine Rolle spielen. Niemand muss sich das Bürgerrecht durch Anpassung «verdienen». Das heutige Verfahren zielt auf eine vermeintliche «Selektion» und beruht auf dem Verdacht, jemand könnte etwas verlangen, das ihm oder ihr nicht zusteht – wie sich eindrücklich am Fall von Yllka Gashi zeigt. Diese Haltung darf in der Schweiz von heute keinen Platz haben.
Von den acht Millionen Einwohner:innen der Schweiz haben zwei Millionen keinen Schweizer Pass. Während die Vielfalt längst Alltag ist, sind Chancen und Rechte ungleich verteilt. Weil dies der Demokratie grossen Schaden zufügt, brauchen wir einen neuen Gesellschaftsentwurf. Dafür will sich die Aktion Vierviertel einsetzen.
1970 hat das Schweizer Stimmvolk die Schwarzenbach-Initiative knapp abgelehnt. Trotzdem hat sie seither den fremdenfeindlichen Diskurs über Ausländer:Innen und Einbürgerung geprägt. Aktion Vierviertel will dieser rückständigen Hegemonie ein Ende setzen.
Letztes Jahr jährte sich die knappe Ablehnung der Schwarzenbach Initiative gegen die «Überfremdung» zum fünfzigsten Mal. Vielerorts wird deren damaliges Scheitern als Zeichen einer humaneren Schweiz gedeutet, welche schliesslich doch «Menschen» und nicht lediglich «Arbeitskräfte» ins Land geholt hätte.
Auf den zweiten Blick gibt es aber wenig zu feiern. Zwar hat sich die Schweiz am Erbe der damaligen Gastarbeiter:innen wirtschaftlich, kulturell, sozial und, warum auch nicht, kulinarisch enorm bereichert und ist insgesamt zu einer offeneren, diverseren Gesellschaft geworden. Trotz der Ablehnung in der Volksabstimmung hat die Schwarzenbach Initiative die Schweizer Politik jedoch grundlegend und nachhaltig verändert. Gastarbeiter:innen wurden oft unter Generalverdacht gestellt und einer restriktiveren Praxis unterstellt, viele wurden regelrecht gedrängt, das Land zu verlassen als die Ölkrise 1973 ausbrach und die Einbürgerungsregelungen wurden stetig verschärft. Schlimmer: ausländerfeindliches, rechtspopulistisches Gedankengut wurde salonfähig und hat den politischen Diskurs während den letzten fünf Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt.
Ein trauriges Ergebnis dieser Entwicklung ist die heute existierende politische Zweiklassengesellschaft. Knapp drei Viertel der Bevölkerung, in den Städten oft kaum zwei Drittel, entscheiden über die politischen Geschäfte, bestimmen z.B. wie unsere Schulen zu funktionieren haben oder wie viel Steuern wir bezahlen sollen. Gleichzeitig sind mehr als zwei Millionen Mitbürger:innen, die nicht über den roten Pass verfügen, von all den Entscheiden unmittelbar betroffen, von der aktiven Mitwirkung in unserer direkten Demokratie jedoch ausgeschlossen. Im Alltag begegnen sie uns als Arbeitskolleg:innen, als Freunde und Freundinnen, als Bekannte, die rege am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilhaben und ihre Steuern bezahlen. Wenn wir uns aber am Abstimmungssonntag umsehen, in die Parlamente oder Exekutiven schauen, sind sie nicht dabei. Sie sind davon ausgeschlossen, ausser sie meistern die zahlreichen, langwierigen und teuren Hürden des Einbürgerungsverfahrens. Diese Hürden sind speziell für Personen, die wegen ihrer Arbeit, der Lehre oder anderen Gründen den Wohnort und auch den Kanton wechseln müssen, kaum zu nehmen.
2019 hat unser ein Land einen fortschrittlichen Schub erlebt: Frauen, Junge und Umweltthemen sind entscheidend vorwärts gekommen. 2021 muss das Ende der Ära Schwarzenbach einleiten. 50 Jahre sind mehr als genug! Unsere Gesellschaft und unsere direkte Demokratie dürfen sich die bestehende politische Zweiklassengesellschaft nicht länger leisten. Wir brauchen alle Köpfe, um gemeinsam die Zukunft zu meistern. Es ist Zeit für ein radikales Umdenken bei der Einbürgerung unserer bisher ausgeschlossenen Mitbürger:innen! Es ist Zeit für eine breite Bürgerbewegung, die unser verstaubtes und reaktionäres Bürgerrecht endlich unserer gelebten Wirklichkeit anpasst! Es ist Zeit für ein Grundrecht auf Einbürgerung!
Ohne Integration kein Schweizer Pass. Doch was heisst Integration überhaupt? Obwohl das niemand so genau weiss, werden viele Menschen in der Schweiz aufgrund “mangelnder Integration” nicht eingebürgert. Genau hier liegt das Problem.
Sie sei nicht integriert, weil sie mit ihrem Engagement gegen Kuh- und Kirchenglocken Traditionen abschaffen wolle. Mit dieser Begründung wurde Nancy Holten in Gipf-Oberfrick die Einbürgerung verweigert. Viele Einbürgerungswillige in der Schweiz werden mit der Begründung abgelehnt, nicht, zu wenig, oder „nicht allzu ausgeprägt“ integriert zu sein. Dabei ist völlig unklar, was damit genau gemeint ist.
Zwar hält das revidierte und 2018 in Kraft getretene Bürgerrechtsgesetz erstmals fest, wodurch sich eine erfolgreiche Integration insbesondere zeigt, nämlich
a) im Beachten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung;
b) in der Respektierung der Werte der Bundesverfassung;
c) in der Fähigkeit, sich im Alltag in Wort und Schrift in einer Landessprache zu verständigen; und
d) in der Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung.
Schliesslich fordert das Gesetz ebenfalls, mit den „schweizerischen Lebensverhältnissen vertraut zu sein“. So weit, so vage. Während ein Strafregisterauszug (a), ein Sprachdiplom (c) oder ein Arbeitsvertrag (d) handfeste Dokumente und mehr oder weniger objektive Kriterien sind – was noch nicht heisst, dass es legitime und verhältnismässige Kriterien für die Einbürgerung sind – lassen sich die Respektierung der Werte der Bundesverfassung (b) oder eben das Vertrautsein mit den schweizerischen Lebensverhältnissen nicht so einfach bemessen und beurteilen.
Integration wohinein?
Was soll das überhaupt sein, diese „Werte der Bundesverfassung“ und die „schweizerischen Lebensverhältnisse“? Genauso wie die Werte der Bürger:innen in einer vielfältigen Demokratie beträchtlich auseinander gehen, so tun es auch die Lebensverhältnisse. Wessen Werte gilt es also zu respektieren, mit wessen schweizerischen Verhältnissen sich vertraut zu machen? Oder eben: Wohinein genau soll man sich integrieren?
Nun mag man einwenden: Bei Einbürgerungen legen die Gemeinden durchaus fest, was genau sie unter Integration verstehen, etwa die Kenntnis von Sitten und Gebräuchen, die Mitgliedschaft in einem lokalen Verein oder die Namen der Dorfbeizen. Wo also liegt das Problem, wenn die Gemeinden doch sehr genau wissen, was sie unter Integration verstehen?
Kuhglocken und Trainerhosen: das Problem der Willkür
Das erste Problem ist die Willkür. Gerade weil das Gesetz nicht abschliessend definiert, was Integration ist, können Gemeinden und Einbürgerungskommissionen alles Mögliche – oder besser gesagt: alles Störende – darunter verstehen: Politisches Engagement gegen Kuh- und Kirchenglocken? Nicht integriert! Auf der Strasse nicht grüssen? Nicht integriert! In Trainerhosen durchs Dorf laufen? Nicht integriert! Das ist natürlich absurd, und doch haben diese Fälle System, eben weil es keine genaue Definition von Integration gibt. Warum also legt das Parlament nicht einfach genauer fest, was es unter Integration versteht? Die Antwort ist: Es kann nicht. Zumindest nicht, solange es dem Anspruch einer liberalen, rechtsstaatlichen Demokratie gerecht werden will.
Freiheit oder Integration
Denn das ist das zweite Problem mit der Integration: die individuellen Freiheiten. Auch wenn die „Werte der Bundesverfassung“ nirgendwo klar definiert sind, sind es die Grundrechte und -Freiheiten sehr genau: Artikel 7 bis 36 der Verfassung. Sie gelten für alle Menschen in der Schweiz gleichermassen, unabhängig vom Schweizer Pass. Wenn es also Schweizer:innen grösstenteils frei stehen soll, wie sie leben wollen, mit wem und in welchen Verhältnissen, in Trainerhosen oder nicht, sich politisch zu engagieren oder nicht, einer Religion anzugehören oder nicht, einem Verein beizutreten oder nicht – die Antwort ist immer dieselbe: ja, soll es – dann gilt dies auch für Menschen ohne Schweizer Pass. Und damit sind wir beim Kern des Integrationsparadoxes: Viele Anforderungen und Vorstellungen von Integration widersprechen einem der genannten Integrationskriterien gleich selbst: die Respektierung der individuellen Grundrechte und Freiheiten der Bundesverfassung.
Es kann deshalb nicht sein, dass eine Bedingung dafür, durch die Einbürgerung Bürger:in dieser liberalen Demokratie zu werden, darin besteht, auf Grundfreiheiten eben dieser Demokratie zu verzichten und sich anpassen zu müssen. Entsprechend lautet die Frage am Ende: Freiheit oder Integration. Und während Schweizer:innen für sich gerne ersteres in Anspruch nehmen, fordern sie von künftigen Bürger:innen letzteres – und versagen ihnen damit die Freiheit, ein Grundwert der Bundesverfassung und der schweizerischen Lebensverhältnisse.
Für ein Grundrecht auf Einbürgerung
Vereinskonto: CHF 6248.4377.2001
IBAN CH86 0078 1624 8437 7200 1
BIC: KBSGCH22
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